experimental geography

Teile der Texte sind von mir zusammengefasste Rezension von Christian Neugebauer und Christoph Clar gekennzeichnet mit (*) am Ende Überschrift ungekürzt nachzulesen > www.european-spaces.eu/klassiker-der-raumthematik bis auf den ersten- folgen die Texte einer chronologischen Ordnung weitere Texte folgen

Weichhart, Peter, Die Räume zwischen den Welten und die Welt der Räume (*)

Raumkonzepte

Raum 1: Die erste Bedeutung des Wortes Raum bezieht sich auf die – für Nicht-Geographen vielleicht klassische geographische – Funktion, einen Teilbereich der Erdoberfläche begrifflich abzustecken; im Sinne eines Erdraumausschnitts. Weichhart betont, „dass dieses Raumkonzept immer dann völlig problemlos eingesetzt werden kann, wenn damit tatsächlich nicht mehr gemeint ist als ein Art flächenbezogener Adressenangabe, und die Abgrenzung rein pragmatisch erfolgt“.

Raum 2: In der Erläuterung der zweiten Bedeutung von Raum bedient sich der Autor bei dem – uns bereits bekannten – Containerraum von Newton. In dieses dreidimensionale Behältnis ist alles Materielle eingebettet; nimmt man es heraus, bleibt der Raum über. Er existiert also unabhängig von seiner dinglich-materiellen Füllung

Raum 3: Benutzer der dritten Bedeutungsvariante denken Raum als etwas durch immaterielle Relationen und Beziehungen Konstituiertes. Raum nimmt dabei eine ordnende Rolle ein, bietet „eine logische Struktur [an], innerhalb derer die gegebenen Elemente gedanklich eingepasst oder verortet werden“. Im Gegensatz zu den ersten beiden Bedeutungen fehlt dem hier vorliegenden Konzept die Gegenständlichkeit. Als Ordnungsraster wird diese Art von Raum vom jeweiligen Betrachter über die vorfindbare Realität gelegt. So kann er das, was er wahrnimmt durch Ordnungen, Hierarchien, Raster in eine geordnete Struktur bringen.

Raum 4: Die vierte Bedeutungsvariante streicht der Autor zwar gesondert hervor, gesteht aber ein, dass sie durchaus ein Teilelement der vorhergehenden (Raum 3) darstellt. Sie geht zurück auf Leibniz, dessen Raum des Koexistierenden ebenfalls ohne die Vorstellung eines leeren Raums (siehe Raum 2) auskommt; er wird vielmehr konstituiert durch die existierenden Lagebeziehungen zwischen den Dingen und Körpern. „Dadurch, dass materielle Dinge eine bestimmte Konfiguriertheit aufweisen, zueinander in bestimmten Lagerelationen stehen, benachbart, getrennt oder miteinander verbunden sind, kann so etwas wie ein funktionaler oder dynamischer Systemzusammenhang entstehen, der ohne diese spezifische Lagerungsqualität nicht eintreten würde“. Weichhart plädiert dafür, diese Anschauung des Raumes durch den sprachlich korrekteren Begriff der Räumlichkeit zu ersetzen.

Raum 1e: Eine weitere Verwendungsweise des Wortes Raum bezieht sich auf den erlebten Raum. Es geht dabei um einen subjektiv wahrgenommenen Ausschnitt des Erdraums (deswegen auch die an Raum 1 ankoppelnde Nummerierung), der allerdings – in Gegensatz zu

Raum 1 – inhaltlich aufgefüllt, mit subjektivem Sinn und subjektiver Bedeutung (gruppen- und kulturspezifische Werturteile, Zuschreibungen, o.ä.) aufgeladen wird. „Der erlebte Raum erscheint dem Menschen als der Inbegriff faktischer Realität, er repräsentiert gleichsam die integrale ‚Wirklichkeit’ der Außenwelt, der wir in unserer individuellen Existenz gegenüberstehen“. Diese räumlich strukturierte Erlebnisgesamtheit, dieses kognitive Konstrukt repräsentiert und formuliert ein Gefüge von Meinungen und Zuschreibungen über einen Raum. Es handelt sich dabei also immer um ein selektives, verzerrtes, interpretiertes Bild der Realität. Diese Umdeutung von Beziehungen zwischen Dingen und Körpern zu einem Substanzbegriff bezeichnet man als Hypostasierung. Natürlich stellen derartige Räume oft eine Projektionsfläche für Identitäten o.ä. dar.

Diese spezifische, subjektiv gefärbte Interpretation der Realität wird in den alltäglichen Handlungsvollzügen der Individuen von ihnen dazu verwendet, „die jeweils vorfindbare Relationalität der Sach- und Sozialstrukturen ordnend zusammenzufassen und damit auch die Komplexität der Wirklichkeit zu verringern“.

Raum 5: Die letzte Bedeutungsvariante erläutert Weichhart nur der Vollständigkeit halber – weswegen auch an dieser Stelle nicht weiter darauf eingegangen wird; es handelt sich um jene epistemologische Konzeption von Immanuel Kant, deren Raum eine Form der Anschauung zur Organisation von Wahrnehmungsinhalten ist.

Weichhart, Peter; Die Räume zwischen den Welten und die Welt der Räume; in: Meusburger, Peter (Hrsg.); Handlungszentrierte Sozialgeographie. Benno Werlens Entwurf in kritischer Diskussion; Erdkundliches Wissen 130; Franz Steiner Verlag; Stuttgart, 1999, S. 67 – 82.

Bachelard, Gaston, Poetik des Raumes, 1957 (*)

Im vorliegenden Text beschäftigt sich Bachelard mit der „Topophilie“; d. h. mit der Analyse „des glücklichen Raumes“. Zentral Aspekt hierbei ist die Eruierung des menschlichen Wertes von Besitzräumen. Für Bachelard bedeutet dies den Raum, als erfahrbares Etwas, in all seinen empfindungsmäßigen Konsequenzen zu untersuchen. Somit sind die, von der Einbildungskraft, erfassten Räume keine indifferenten, für sich allein stehenden Räume die nur den geometrischen Maßeinheiten zuzurechnen sind, sondern erlebbare Ausgedehntheiten, die nicht nur in ihrer Positivität erlebt werden. Stattdessen werden Räume mit aller Parteinahme der Einbildungskraft perzipiert. Bachelard versucht nun die gefühlsmäßigen Zugänge zur räumlichen Vorstellung anhand von gedanklichen Bildern – die Ausdruck des menschlichen Raumvorstellens sind – zu analysieren.

Bachelard beginnt seine Analyse mit einem Vergleich: Räumliche Erinnerungsbilder werden im menschlichen Inneren als räumlich verdichtete Zeitpunkte abgespeichert, die gleich wie der Aufbau eines Hauses im Geiste Gestalt annehmen. Es gibt Keller, Speicher, Winkel usw., wo unsere Erinnerungen die Charakteristik von Zufluchtsorten annehmen. In der Psychoanalyse werden solche örtliche Verräumungen von Erinnerungsbildern und die Analyse derselben „Topos-Analyse“ genannt. „In seinen tausend Honigwaben speichert der Raum verdichtete Zeit. Dazu ist der Raum da“.

Zentral ist für Bachelard, dass eben solche (unsere) Erinnerungsräume – die wir in unserem geistigen „Haus“ untergebracht haben – eine zeitlose Konsistenz besitzen. D. h. sie wurden von der Zeit entkoppelt und fungieren dadurch als stets gegenwärtige Erinnerungen an gewisse Seins-Erfahrungen. Eine lineare Zeitlichkeitsentwicklung kann von der menschlichen äußeren Umwelt von – so Bachelard – Biographen nacherzählt und hergestellt werden. Jedoch sind unsere innersten verräumten Gedankenbilder allgegenwärtig und erfüllen den Zweck, dass darauf stets zurückgegriffen werden kann. Die Besinnung auf „vergangenes“ – auch und gerade weil es zeitlos ist – wirkt immer tröstend. Gerade weil wir – wie eingangs erwähnt – glückliche Erinnerungsräume in unserem „Haus“ verräumen. „[I]n der Erinnerung, die in der Träumerei wiedergefunden wird, ist die Dachstube, wer weiß durch welchen Synkretismus, klein und groß, warm und kühl, doch immer tröstend".

Bachelard, Gaston (1957): Poetik des Raumes. In: Dünne, Jörg / Günzel, Stephan (Hg.) (2006): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Suhrkamp: Frankfurt/Main, S. 167 – 169.

Leroi-Gourhan, André, Die symbolische Domestikation des Raums, 1965 (*)

Mit Leben erfüllte Formen gibt es nur durch eine Einbettung in ihre jeweilige mit einem menschlichen Symbolsystem angefüllte soziale Umgebung. „Die menschliche Tatsache par excellence ist […] die Domestikation von Zeit und Raum.“ Jegliche „Natürlichkeit“ (Rhythmik der Jahreszeiten, Tag und Nacht, zu Fuß bewältigende Distanzen, etc.) wird durch ein symbolisches Netz (Kalender, Uhr, Längenmaße, etc.) vereinnahmt. Im humanisierten Raum, in der humanisierten Zeit gelangt das Spiel der Natur auf die vom Menschen beherrschte Bühne. Dieser „künstliche“ Rhythmus ermöglicht eine Sozialisation der Menschen.

Prinzipiell unterscheidet Leroi-Gourhan zwei Arten der Wahrnehmung, der ein Individuum umgebenden Welt. Entweder als Strecke, als Bahn, während der dynamischen Durchquerung des Raums, oder als konzentrisch aufeinander folgende Kreise, die „das Bild in zwei einander gegenüberliegende Oberflächen, den Himmel und die Erde, die am Horizont zusammenlaufen“ teilen. Während Leroi-Gourhan verschiedene Tierarten (überwiegend) entweder die eine oder die andere Art der Wahrnehmung zuschreibt, meint er dass Mensch beide „mit dem Gesichtssinn verknüpft“, allerdings je nach Dies- oder Jenseitigkeit der Sesshaftwerdung in verschiedenen proportionalen Relationen zueinander (er erkennt Anzeichen dafür in Malereien, Erzählungen, o.ä.).

Vereinfacht: der nomadische Jäger-Sammler erfasst die Welt rund um ihn über die Wege, auf denen er sie durchwandert; der sesshafte Bauer erfasst die Welt rund um seinen Hof als konzentrisch angeordnete Kreise.

Die durch Sesshaftwerdung induzierte neue Gewichtung der Wahrnehmung prägte natürlich die Form jeglichen Dispositivs des sozialen Lebens (Zentralisierung, Hierarchisierung, Städte als Zentren). Logisch darauf folgendes und zu lösendes Problem ist die räumliche Integration des Individuums. „Die Integration der Individuen in den städtischen Organismus wird durch Rhythmen gewährleistet, die die kollektive Konditionierung bestimmen“. Die Stadt wird zum Orientierungspunkt, um diesen humanisierten Kern mit seiner natürlichen Umgebung in eine kontinuierliche Ordnung zu bringen. Der humanisierte und durch symbolische Zuordnung bestimmte Mikrokosmos als Zentralpunkt der in einen Makrokosmos integrierten Anordnung von Himmel und Erde, von Süd, Nord, Ost und West. Durch diese räumliche (und zeitliche) Integration versucht Mensch das Universum unter seine Kontrolle zu bringen. Man hat Macht über einen Gegenstand nur dann, wenn man ihn benennt; das Symbol regiert den Gegenstand. Leroi-Gourhan, André; Die symbolische Domestikation des Raums; in: Dünne, Jörg/ Günzel, Stephan; Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften; Suhrkamp Taschenbuch Verlag; Frankfurt am Main, 2006; S. 228 – 239.

Foucault, Michel, Von anderen Räumen, 1967 (*)

Foucault beginnt seinen fundamentalen Text zum Raum mit einer prinzipiellen Überlegung: War das 19. Jahrhundert noch eine Epoche der Geschichte – geprägt von Themen wie Entwicklung, Stillstand, Krise, Zyklus oder auch Akkumulation des Vergangenen – so befindet sich die Gegenwart in einem Zeitalter des Raumes. Für Foucault leben wir in einer Epoche der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, der Nähe und Ferne gleichermaßen, des Nebeneinanders als auch des Zerstreuten. „Der Strukturalismus oder zumindest das, was man unter dieser recht allgemeinen Bezeichnung zusammenfasst, ist der Versuch, zwischen Elementen, die über die Zeit verteilt sein mögen, eine Reihe von Beziehungen herzustellen, die sie als ein Nebeneinander, als ein Gegenüber, als etwas ineinander Verschachteltes, kurz als Konfiguration erscheinen lassen“.

Foucault, Michel (1967): Von anderen Räumen. In: Dünne, Jörg / Günzel, Stephan (Hg.) (2006): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Suhrkamp: Frankfurt/Main, S. 317.

In diesen äußeren Räumen der Relationen sind für Foucault gerade jene Orte interessant, die mit allen anderen Orten in Verbindung stehen, „aber so, dass sie alle Beziehungen, die durch sie bezeichnet, in ihnen gespiegelt und über sie der Reflexion zugänglich gemacht werden, suspendieren, neutralisieren oder in ihr Gegenteil verkehren“.

Diese Räume lassen sich nach Foucault in zwei Gruppen einteilen:

1. „Das sind erstens Utopien. Utopien sind Orte ohne realen Ort. Es sind Orte, die in einem allgemeinen, direkten oder entgegengesetzten Analogieverhältnis zum realen Raum der Gesellschaft stehen. Sie sind entweder das vervollkommnete [sic.] Bild oder das Gegenbild der Gesellschaft, aber in jedem Fall sind Utopien ihrem Wesen nach zutiefst irreale Räume“.

2. Dann gibt es in unserer Zivilisation wie wohl in jeder Kultur auch reale, wirkliche, zum institutionellen Bereich der Gesellschaft gehörige Orte, die gleichsam Gegenorte darstellen, tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden. Es sind gleichsam Orte die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen. Da diese Orte völlig anders sind als all die Orte, die sie spiegeln und von denen sie sprechen, werde[n] […] sie im Gegensatz zu den Utopien als Heterotopien bezeichne[t]“.

Diese beiden unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Gruppen an Räumen finden ihre Verbindung im Virtuellen. Für Foucault kann der virtuelle Raum als Verbindungsglied der beiden reflexiven Raumgruppen durch den Spiegel – symbolisierend – hergestellt werden. Der Spiegel symbolisiert sowohl das irreale Utopische wiewohl zugleich auch das Reale Heterotopische in der Existenz des materiellen Spiegels (als Metapher) an sich. „Der Spiegel funktioniert als Heterotopie, weil er den Ort, an dem ich bin, während ich mich im Spiegel betrachte, absolut real in Verbindung mit dem gesamten umgebenden Raum und zugleich absolut irreal wiedergibt, weil dieser Ort nur über den virtuellen Punkt jenseits des Spiegels wahrgenommen werden kann“.

Ebenda, S. 320f.

Heterotopologie nach Foucault

(Zusammenfassung: DDr. Mădălina Diaconu, Universität Wien)

Mit der klassischen Definition der Utopie als Nirgendwo lassen sich Heterotopien als „Gegenorte“ verstehen, welche u.a. Utopien konkret realisieren und dadurch die alltäglichen Funktionen des Lebensraumes außer Kraft setzen. Dieses Aushebeln entsteht, indem sie zwar mit allen anderen Orten in Beziehung stehen, diese Relationsbündel allerdings „suspendieren, neutralisieren oder in ihr Gegenteil verkehren“ und sich dadurch folglich zu bestehenden Orten widersprüchlich oder radikal positionieren. Kann eine Utopie nach Foucault noch ohne Ort bestehen, stellen Heterotopien Orte dar, welche neben allen anderen realen Orten existieren, allerdings aufgrund ihrer Exklusivität (u.a. als Soziale Räume) gleichzeitig „außerhalb aller Orte liegen“.

Grundsätze einer Heterotopologie sind demnach:

1. Jede Kultur bringt Heterotopien hervor. Allerdings lässt sich keine universell gültige Form finden.

2. Die Funktion einer Heterotopie ist variabel, d.h. „je nach der Synchronie der Kultur, in der sie sich befindet, kann dieselbe Heterotopie eine ganz andere Funktionsweise erhalten.“3 (Bsp. Das Verhältnis von Friedhof und Stadt in der abendländischen Kultur des 19. Jhd.)

3. „Heterotopien besitzen die Fähigkeit, mehrere reale Räume, mehrere Orte, die eigentlich nicht miteinander verträglich sind, an einem einzigen Ort nebeneinander zu stellen.“4 (Bsp. Theater, Kino, tradition. persischer Garten, Teppiche)

4. „Heterotopien stehen meist in Verbindung mit zeitlichen Brüchen. […] Eine Heterotopie beginnt erst dann voll zu funktionieren, wenn die Menschen einen absoluten Bruch mit der traditionellen Zeit vollzogen haben.“5 (Bsp.: Museen und Bibl. als Heterotopien, welche Orte für die Ewigkeit schaffen, sowie Feste und Jahrmärkte als auf das Zeitliche ausgerichtete Heterotopien.)

5. „Heterotopien setzen stets ein System der Öffnung und Abschließung voraus, das sie isoliert und zugleich den Zugang zu ihnen ermöglicht.“6 Dies geschieht mittels Eingangs- oder Reinigungsritualen oder Anträgen. Scheinbar offene Heterotopien sind für den Besucher „auf seltsame Weise“7 verschlossen. (Bsp. Die Kammern für Reisende in Südamerika, Motels)

6. Sie üben eine „Funktion aus, die sich zwischen zwei extremen Polen bewegt. Entweder sollen sie einen illusionären Raum schaffen, oder einen anderen realen Raum, welcher eine vollkommene Ordnung aufweist.“8 (Bsp. Freudenhäuser, (Jesuiten-) Kolonien und deren Architektur.

Typen und Heterotopien:

  • Krisenheterotopie / Abweichungsheterotopie
  • Heterotopien der Zeit (Feste, Jahrmärkte)
  • Heterotopien der Ewigkeit (Museum, Bibliothek)
  • Illusorische Heterotopie (Freudenhaus)
  • Kompensatorische Heterotopie (Kolonie)

Ebenda, S. 320f.

Lefebvre, Henri, Die Produktion des Raums, 1974 (*)

Lefebvre geht in seinem – hier vorliegenden – Text von der These aus, dass (sozialer) Raum ein (soziales) Produkt ist. Dieser entsprechend, beginnt er mit der Erläuterung einiger daraus folgender Implikationen

1. (Physischer) Naturraum ist und bleibt zwar das Ursprüngliche des sozialen Prozesses, Quelle und Rohstoff; er bleibt als Bildhintergrund bestehen, aber eben nur mehr als Bildhintergrund, der sich dem bewussten Denken entzieht. Er rückt auf Distanz, „verwandelt sich in eine Fiktion, in eine negative Utopie“. Er stellt sich nur mehr als Rohstoff dar, auf den die Produktivkräfte verschiedener Gesellschaften eingewirkt haben. Ziel dieses Einwirkens war/ist die Produktion eines ihnen eigenen Raums. Somit ist der Naturraum entleert, geschwächt, besiegt.

2. Jede Gesellschaft produziert einen ihr eigenen Raum (mit ihrer eigenen Raumpraxis). Raum besteht in seiner jeweils eigenen Genese, seiner Form, mit seinen spezifischen Zeiten und seiner spezifischen Zeit; für jede Gesellschaft, genauer gesagt „jede Produktionsweise (mode de production), die bestimmte Produktionsverhältnisse (rapports de production) beinhaltet“. Lefebvre, Henri (1974); Die Produktion des Raums, in: Dünne, Jörg/ Günzel, Stephan (Hrsg.); Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften; Suhrkamp Taschenbuch Verlag; Frankfurt am Main, 2006; S. 330f.

Es kommt also im Raum zu vielfältigen Überkreuzungen an dafür vorgesehenen Orten und Plätzen. Hinzu kommen die Repräsentationen jener Produktionsverhältnisse, die Machtbeziehungen beinhalten (Gebäude, Denkmäler, etc.), die ebenfalls im Raum stattfinden. Daraus bildet sich für Lefebvre eine zentrale Dreiheit aus:

• räumliche Praxis … setzt Raum und setzt ihn dennoch schon voraus. Sie beherrscht Raum, eignet sich ihn an und produziert ihn somit allmählich aber kontinuierlich.

• Raumrepräsentationen … (also der konzipierte Raum) sind der in einer Gesellschaft dominierende Raum. „Die Raumkonzeptionen tendieren […] zu einem System verbaler, also verstandesmäßig geformter Zeichen“.

• Repräsentationsräume … (also der gelebte Raum) ist jener Raum, der durch Bilder und Symbole vermittelt wird, und zwar von jenen, die glauben ihn nur zu beschreiben (Schriftsteller, Philosophen, etc.). „Er legt sich über den physischen Raum und benutzt seine Objekte symbolisch“.

Ebenda, S. 336

Certeau, Michel de, Praktiken im Raum, 1980 (*)

Grundsätzlich unterscheidet Certeau zwischen Raum und Ort; Letzteres bezeichnet die Ordnung der Beziehungs- und Koexistenzverhältnisse der Elemente. Damit können zwei Dinge nie an derselben Stelle sein. „Ein Ort ist also eine momentane Konstellation von festen Punkten. Er enthält einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität. […] Ein Raum [hingegen] entsteht, wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt“. Er ist also ein Geflecht von Elementen, die sich bewegen, und deren Bewegung in ihrer Gesamtheit ihn erfüllen. Diese Aktivitäten geben ihm eine Richtung, eine Zeit; dadurch funktioniert er erst als eine Einheit von aufeinander abgestimmten Konfliktprogrammen. Im Gegensatz zum Ort fehlen dem Raum also Eindeutigkeit, Stabilität und etwas „Eigenes“. Allerdings werden Orte sehr wohl durch Erzählungen ständig zu Räumen gemacht und vice versa.

Und daran anschließend funktioniert auch das Erleben und die Beschreibung von Orten und Räumen; entweder man sieht, erkennt also eine Ordnung der Orte, oder man geht, was einen Ort zu einem Raum macht. Orte beschreibt man also als Bild, als statische Anordnung von Objekten; oder aber man beschreibt einen Raum anhand von Richtung(sänderung)en, Vektoren, anhand des Bewegens durch diesen.

Certeau, Michel de; Kunst des Handelns; aus dem Französischen von Ronald Voullié, Berlin: Merve 1988, S. 344f.

Bourdieu, Pierre, Sozialer Raum, symbolischer Raum, 1989 (*)

Für Bourdieu dient die Analyse des sozialen Raumes immer dem Zweck das Invariante, somit die Struktur der beobachteten Variante zu erfassen.

Für Bourdieu – und das ist seine zentrale Erkenntnis, die er durch sein Raumdenken gewinnen konnte – werden Klassen konstruiert und nur der Raum dafür ist als gegeben anzunehmen: „Was existiert, ist ein sozialer Raum, ein Raum von Unterschieden, in denen die Klassen gewissermaßen virtuell existieren, unterschwellig, nicht als gegebene, sondern als herzustellende. […] Der soziale Raum ist eben doch die erste und letzte Realität, denn noch die Vorstellungen, die die sozialen Akteure von ihm haben können, werden von ihm bestimmt“. Bourdieu, Pierre (1989): Sozialer Raum, symbolischer Raum. In: Dünne, Jörg / Günzel, Stephan (Hg.) (2006): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Suhrkamp: Frankfurt/Main, S. 365f.

Appadurai, Arjun, Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy, 1990 (*)

Einheit von Kultur und Ort löst sich auf
Kultur nicht mehr fest verortet > Bewegung entgrenzter kultureller Ströme - cultural flow

  • ethnoscapes: ortsunabhängige Räume verschiedener mobiler Ethnien -
  • technoscapes: Internet
  • financescapes: globale Finanzströme - Investitionen
  • mediascapes: global vernetzte Medien
  • ideoscapes: komplexe ideelle Landschaften, Vorstellungen

Appadurai, Arjun: Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy. University of Minnesota Press. Minneapolis 1990.

Flusser, Vilém, Räume, 1991 (*)

(...) Und genau an dieser Stelle treffen wir auf den – schon in anderen Artikeln auf dieser Seite behandelten – „virtuellen Raum“. Virtuell „ist jener Raum, worin sich Teilchen befinden würden, wenn sie sich befinden könnten und wenn sie wirklich wären. Damit im Wort `virtueller Raum` so leichtsinnig umgegangen wird ist es gut, sich seinen Ursprung ins Gedächtnis zu rufen: das Wort meint jenen Noch-nicht-Raum, in welchem Noch-nicht-Wirklichkeiten ihre Noch-nicht-Zeit verbringen“. Der Zusammenhang zwischen realem und virtuellen Raum ist für Flusser, dass im virtuellen Raum kein wahr oder falsch, sondern immer nur mehr oder weniger große Wahrscheinlichkeiten vorherrschen, während es im realen Raum um tatsächlich Kalkulierbares geht. Und genau diese Unterscheidung wirkt nun auf unseren „realen“ Lebensraum ein – ob wir wollen oder nicht. „Wir können nicht anders, als fortan die Wahrheit als einen unerreichbaren Grenzwert der Wahrscheinlichkeit ansehen. Wodurch auch unser konkreter Lebensraum etwas Virtuelles in sich saugt: wir sind nicht mehr so überzeugt, dass der Lebensraum tatsächlich konkret ist“.
Flusser, Vilém (1991): Räume. In: Dünne, Jörg / Günzel, Stephan (Hg.) (2006): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Suhrkamp: Frankfurt/Main, S. 277f.

Appadurai, Arjun, The Production of Locality, 1996

Ethnoscapes als Form von nicht ortsgebundenem sozialem Raum Neighbourhood als existierende soziale Form/ Gemeinschaft neighbourhoods sind heute meist Ethnoscapes

Locality - Verortung in einem Kontext

kann in neighbourhoods auf verschiedene Weisen realisiert werden räumliche Produktion von „locality“ ist nicht gleich Gemeinschaft/ Wertschätzung erst Gründungsritual sowie folgende Handlungen, gelebter Erfolg, Repräsentation wirken bedeutungsgebend „locality“ ist vergänglich, muss permanent neu produziert oder reproduziert werden

Translocality

Gruppenidentität innerhalb von Ethnoscapes setzt räumliche Verbindung
oder ethnische Homogenität NICHT voraus
virtuelle neighbourhoods sind global möglich
Appadurai, Arjun: Production of Locality. In: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization. University of Minnesota Press. Minneapolis 1996.

Auge, Marc, Nicht-Orte, 2004 (*)

konstatiert im Zuge von Modernisierung und Globalisierung weltweit eine rasante Zunahme von sinnentleerten, transitorischen Funktionsorten. Diese "Nicht-Orte" – Flughäfen, U-Bahnen, Flüchtlingslager, Supermärkte, Hotelketten sind keine "anthropologischen Orte", man ist nicht heimisch in ihnen, sondern es sind "Orte des Ortlosen" und gewissermaßen das Gegenteil von "Erinnerungsorten". Diese Orte stiften keine individuelle Identität, haben keine gemeinsame Vergangenheit und schaffen keine sozialen Beziehungen. Sie sind Zeichen des kollektiven "Identitätsverlustes". "Der Raum der Nicht-Orte schafft Einsamkeit und Gleichförmigkeit". Der "anthropologischer Ort", nachhaltig von sozialen Beziehungen oder gemeinsamer Geschichte geprägt ist in zeitlich vorübergehenden Räumen nicht vorhande.

Das Nahe und das Ferne: das europäische, westliche HIER erhält erst seinen vollen Sinn im Verhältnis zum fernen, ehemals "kolonialen", heute "unterentwickelten" Anderswo. Die Veränderung der städtischen Landschaft: Dezentrierung – verkehrstechnische Infrastruktur bemisst Bedeutung und Qualität einer Stadt, im privaten Wohnraum haben Fernseher und Computer die frühere Bedeutung des Herdes eingenommen, Smartphones (zugleich Foto, Computer, Fernseher ...) machen das Individuum völlig unabhängig von seiner physischen Umgebung und führt zu einer Erweiterung der empirischen "Nicht-Orte" – Verkehrs-, Konsum-, Kommunikationsräume.

Die Ideologie der globalen Welt impliziert Auslöschung von Grenzen – durch Bildtechnologien und Raumordnung, weltweit vermehren sich Verkehrs-, Konsum-, Kommunikationsräume. Die Geschichte (das zeitlich Ferne) erstarrt in Darstellungen unterschiedlicher Art, die sie zum Spektakel der Gegenwart und insbesondere für die Touristen machen welche die Welt besuchen. Kulturell und geografischer analog (das räumlicher Ferne) vermitteln weltweit die gleichen Hotels, Ketten, Fernsehsender den Eindruck, die Welt sei überall gleich.

Urbanisierung der Welt ist ein Teil dieser Entwicklung/ ihr spektakulärster Ausdruck politisches und wirtschaftliches Leben des Planeten hängt von Entscheidungszentren ab – die miteinander verbunden eine Art "virtuelle Metacity" (Virilio) bilden.

(Wenn die Architektur in gewissem Sinne die Illusionen der aktuellen Ideologie ablöst und an der Ästhetik der Transparenz und der Reflexe, der Höhe und der Harmonie, der Ästhetik der Distanz teilhat, die wissentlich oder unwissentlich ebendiese Illusion nährt und den Triumph des Systems an den stärksten Punkten des weltweiten Netzes zum Ausdruck bringt, so erlangt sie damit eine utopische Dimension. In dieser von Bildern und Nachrichten gesättigten Welt vermag nur noch die Utopie einen Ausweg und eine Hoffnung zu bieten.)

Nicht-Orte bergen Reste von Utopie, nach dem Bild unserer Zeit hin und her gerissen zwischen Passivität und Angst und trotz allem auch Hoffnung oder mindestens Erwartung. Maßlosigkeit der Stadt abwechselnd wegen ihrer Unmenschlichkeit beklagt oder wegen ihrer Größe bewundert.

Wie schon im 19. Jrh. bei der armen Landbevölkerung Europas, heute bei den verdammten der Erde, "die lieber den Tod riskieren, indem sie vor ihm fliehen, als ihn zu erleiden, indem sie in ihrer angestammten Heimat bleiben. Ob trügerisch oder vielversprechend, die Lichter der Stadt leuchten weiterhin." (und das ist wirklich der Schlusssatz dieses Buches) Marc Auge: Nicht-Orte. München 2010.