Hauntology

Jetzt – hier, genau in diesem Moment, stehen wir, sind wir da. – Wie aber lässt sich dieser Augenblick fassen? Sobald wir anfangen, einen bewusst wahrgenommenen Moment möglichst genau zu beschreiben, treten wir in Distanz zu uns selbst und den Dingen, die uns umgeben. Manchmal kann das die Kraft eines Erlebnisses abschwächen, oft ist es aber hilfreich und notwendig, um mit Mitmenschen zu kommunizieren, unser Zusammenleben zu organisieren, zu gestalten und Zukunft zu ermöglichen. Um tätig zu werden, z. B. um zu sprechen, müssen wir den Moment nicht nur bewusst wahrnehmen, sondern auch differenzieren und einordnen. Einordnen, d.h. in den Kontext zu einem gesellschaftlichen Zusammenhang stellen - und in Differenz zu setzen zu all’ dem, was nicht ist, zu Vergangenem und Zukünftigen, Anwesendem und Abwesendem. Um das zu tun, greifen wir auf unsere Erfahrung und das Wissen zurück, das wir über die Gesellschaft, in der wir leben, haben. Das kann nur partiell bleiben und in der Annährung an Realitäten geschehen, denn erstens ist unsere Wahrnehmung eben subjektiv, zweitens ist unser Wissen begrenzt und drittens sind auch sämtliche Kategorisierungen von Raum, Zeit und großen Erzählungen nicht gesichert.
Und dennoch – wir benennen auch heute allgemeine Phänomene und bilden Narrative unserer Zeit, mit denen wir uns der Gegenwart in Abgrenzung zur Vergangenheit und Zukunft vergewissern – sie klingen nur allzu vertraut: „Klimawandel“, „Migrationsgesellschaft“, „Der Finanzmarkt“,...die Liste ließe sich noch mit weiteren Allgemeinplätzen fortführen. Wie wir über uns und die großen Themen unserer Zeit sprechen, wie wir sie wahrnehmen und damit umgehen – die Frage nach der Form also – läuft in einer weiteren umfassenden Epochenbeschreibung zusammen: Das digitale Zeitalter. Die technologischen Entwicklungen, das Internet und die Telekommunikationstechnologie, beeinflussen maßgeblich sämtliche Kategorien der Wahrnehmung, der Einordnung und Differenzierung, sowohl der Individuation als auch die Strukturen von Gesellschaftssystemen. Und zwar so entscheidend, dass man wohl mit Recht behaupten kann, ähnlich wie zur Zeit der Erfindung des Buchdrucks, dass wir in einer Phase des umfassenden gesellschaftlichen Übergangs leben, in dem grundlegende Begriffe wie Erinnerung oder Orientierung neu ausgelotet werden müssen. Wir stecken jetzt mitten im „Zwischenraum“. Hier – ist das „nicht mehr“, dort – ist das „noch nicht“. Und genau dazwischen stecken wir. Die Sache wird dadurch erschwert, dass wir nach der Postmoderne und dem 20. Jahrhundert nicht mehr in der Lage sind (und das kann positiv wie negativ bewertet werden) eine genuine, visionäre Erzählung unserer Gegenwart zu entwickeln, von der aus wir mit einer Idee in die Zukunft gehen könnten. Wir variieren die Mode des 20. Jahrhunderts, mixen Möbel, zitieren Jugendbewegungen wie Punk und kombinieren Reminiszenzen an einmal alternativ gedachte Lebensformen mit dem Glamour des Establishments. Und eine Alternative zum Kapitalismus suchen und suchen wir, kommen aber darüber nicht hinaus, landen auch hier immer wieder gewissermaßen beim Gegenentwurf – dem Kommunismus. Wir wuseln also in diesem Zwischenraum herum, ob orientierungslos, resigniert oder empört, hochaktiviert – viele von uns schon längst erschöpft – und perpetuieren im rasendem Stillstand das was war, ohne eine Vision davon, wohin die Reise gehen könnte. Das aber, was uns verlässlich immer wieder heimsucht, wenn wir versuchen Zukunft denken, ist die Vergangenheit.

Seit einiger Zeit geistert hierfür ein Begriff durch die Poptheorie und behauptet sich zunehmend als eine Art universalistische Formel in der Gegenwartsdiagnostik: „Hauntology“ – eine Zusammensetzung von to haunt - beschwören - und ontology - die Lehre von Sein. Vor ein paar Jahren hat der Kulturtheoretiker Mark Fisher mit dem Begriff „Hauntology“ ein Phänomen beschrieben, das wir vor allem in der Dub-Musik erleben können. Das Sampeln, Loopen und Bearbeiten von Songs, die ganz klar an eine Zeit erinnern, die vergangen ist, wie z.B. Swing-Musik der 20er Jahre, bewirkt, dass wir uns von „Geistern der Vergangenheit“ in der Gegenwart eingeholt fühlen. Wird dieser Musik, z.B. eine räumliche Dimension über Hall und Echo gegeben, mit einem Knistern und mechanischen Geräuschen versehen, als würde man eine Platte abspielen, müssen wir unweigerlich daran denken, dass es neben dem Jetzt noch eine andere Zeit weit weg im Raum gibt, die vergangen ist. Bands wie "Burial" oder "The Caretaker" sind für das Nutzen dieser Effekte beispielhaft [1]. Gefunden hat Fisher den Begriff bei Jacques Derrida, der damit weniger ästhetische und popkulturelle Phänomene beschrieben hat, sondern eher politische Konzepte. Vor allem dann, wenn wir versuchen, eine Alternative zum Kapitalismus zu denken, taucht der Geist von Marx wieder auf. Ob nun in der politischen Theorie oder der Kulturgeschichte, von Musik, über Film, Theater, Kunst, Lebensmittel bis hin zu Wohnkonzepten - der Begriff „Hauntology“ lässt sich auf fast alle Bereiche unseres Lebens anwenden.

→ interesannter Beitrag hierzu: http://rougesfoam.blogspot.de/2009/10/hauntology-past-inside-present.html [2]

Wir verfügen über ein scheinbar grenzenloses Archiv, das besonders im Netz über youtube und andere Plattformen Geschichte vergegenwärtigt, aus ihrem zeitlichen Kontinuum löst und somit auch Wissen von der Möglichkeit der Kanonisierung – ja, man könnte sagen befreit. Gleichzeitig droht die Gefahr, dass die Gegenwart und damit auch die möglichen Zukünfte, die in ihr schlummern, von einem chaotischen, überbordenden Vergangenheitsexzess erdrückt wird, der über die Digitalisierung aller Lebensbereiche noch verstärkt werden kann. Die immer und immer wieder heraufbeschworenen Bilder und Ideen der Vergangenheit und ihre Varianten, die besonders in Produkten der Unterhaltungs- und Kommunikationstechnologie ihren Niederschlag finden, begleiten uns Tag und Nacht durch den Alltag. Das geht über Sepia und Antik-Filter für Fotos, über Serien wie Mad Man bis hin zu Werbung für Pflegeprodukte, um den Status der jugendlichen Schönheit festzuhalten oder, koste es was es wolle, dahin wieder zurückzukommen. Es könnte einen jedenfalls der Eindruck entstehen, in einer Art endlosem digitalen Jetzt zu leben, was dem Zustand einer unkonturierten Zeitlosigkeit nahekommt und zu einer ratlosen und tiefenwirksamen Zukunftsmüdigkeit führen kann. Das Vergangene, es sucht uns dabei immer wieder heim, wenn wir versuchen Zukunft zu denken, mal im Gewand des Traumas, mal in dem der Melancholie und Nostalgie.
Wie aber können wir trotzdem konstruktiv an einer Zukunft arbeiten, ohne in Endzeitstimmung zu verfallen, wenn z.B. die Idee des Kommunismus als Utopie uns immer wieder in einer Denkschleife im alten Gewand verfolgt?

In der ZEIT vom 15. Februar 2015 portraitiert Thomas Gross Mark Fisher mit seinem Konzept von „Hauntology“ und fragt danach, ob dies nichts anderes als ein Wort für die Sehnsucht nach besseren Zeiten sei. So klar ist das auch Fisher nicht, er stellt dann jedoch heraus, dass es vielleicht so etwas wie ein Projekt zur Rettung der verlorenen Zukunft sein könnte. Es müsse zumindest darum gehen, „den Ort möglichen Sprechens erst einmal zu bestimmen“. Dafür sei es erstens hilfreich einen guten Kontakt mit seinen Dämonen zu pflegen, des Weiteren komme es darauf an, sich als Teil des Problems zu begreifen, nicht als Teil der Lösung, denn wir selbst seien diese Gespenster. Wenn wir unseren eigenen Gespenstern zuhören, dann bemerken wir sie vielleicht, all’ die Ideen und Möglichkeiten von Kombinationen, die nie eine Chance hatten, die aber auch hätten Zukunft machen können. Wenn wir immer wieder Geistern der Vergangenheit beschwören oder von ihnen eingeholt werden, dann nicht, um mit Rückgriff auf die Vergangenheit Gegenwart zu beschreiben. Damit bleiben wir in der Sackgasse stecken, auf die wir im Internet und mit der mobilen Telekommunikationstechnologie tagtäglich stoßen. Vergangenheit und Gegenwart fällt hier in sich zusammen und das Tool, das Jetzt zu fassen und zu artikulieren, ist in sich hohl:

“There is an increasingly sense that culture has lost the ability to grasp and articulate the present or it could be that, in one very important sense, there is no present to grasp and articulate any more.“

(Mark Fisher in „Ghosts of My Life – Writings on Depression, Hauntology and Lost Futures“ S. 26, Zero Books, 2014).

Gibt es also ein Endkommen aus dieser Zeitschleife? Wie können wir aus der Hauntology-Gegenwart trotzdem Zukunft denken? Kann man aus diesem Zwischenraum heraustreten und dem „Noch nicht“ mit einer Haltung und Vision gegenübertreten? Dafür lohnt sich vielleicht den Ball zurückzuspielen und zu fragen, welche Bilder gibt es, welche Anordnungen, die gedacht wurden, aber aus verschiedenen Gründen, ob strategisch oder zufällig, ausgeschlossen wurden? Vielleicht entsteht etwas, wenn wir dem rasenden Stillstand in seiner Endlosschleife zuhören und daraus etwas anders, noch nicht Bekanntes heraushören. Erst wenn wir beginnen, die nicht realisierten, vertanenen Zukünfte der Vergangenheit ernst zu nehmen, wenn wir nicht die gelebte Vergangenheit heraufbeschwören sondern die ungelebte, verhinderte, könnte uns das in die Lage versetzen, eine Sprache für das Jetzt zu finden. Die Philosophin und Physikerin Karan Barad macht in ihrem Essay Agentieller Realismus deutlich, dass die Vergangenheit nie zurückgelassen wird, und Zukunft sich nicht allein aus dem gegenwärtigen Augenblick heraus entfaltet „vielmehr sind die Vergangenheit und die Zukunft eingefaltete Teilhaber am schrittweisen Werden der Materie“.

Material, Rest

Um den Sprechakt zu vollziehen, können wir probieren, so vorzugehen, wie Bernard Stiegler vorschlägt: Die Behauptung aufstellen, dass eine Epoche vergangen sei und damit uns selbst unter Zugzwang setzen Taten zu schaffen – Taten, in denen wir tradierte Großbegriffe der Philosophie von Grund auf neu bewerten und das Deklarieren einer Zukunft selbst in die Hand nehmen, indem wir z.B. Ansprüche großer Internetunternehmen unsere Gegenwart zu bestimmen...
Dabei können uns die ruhelosen Geister der nie realisierten Entwürfe Seismographen für die Zukunft sein.

UND NOCH EIN GEDANKE ZUM THEATER TOD – HEINER MÜLLER Tod: Ein Zustand der Stille, in dem die Geschichte präsent sein kann, in einer absoluten Absichtslosigkeit, in dem der Tod spürbar werden kann. In solchen Augenblicken kann auch die Zeit stehen bleiben. Stille als Moment großer Intimität, die wir suchen und trotzdem genauso schnell wieder zerstören.

„Das Wesentliche am Theater ist die Verwandlung. Das Sterben. Und die Angst vor dieser letzten Verwandlung ist allgemein, auf die kann man sich verlassen, auf die kann man bauen. Das Spezifische am Theater ist eben nicht die Präsenz des lebenden Schauspielers oder des lebenden Zuschauers, sondern die Präsenz des potentiell Sterbenden.“

- Heiner Müller

„Wer im Immergleichen des Loops etwas Neues erlebt, hat es mit einem viel härteren Neuem zu tun, als wer dies in einer Struktur erlebt, in der das Auftreten des Neuen vorgesehen ist, wie in der konventionellen Narration.“