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Action in Perception
Abstract
Alva Noë zeigt in "Action in Perception", wieso Wahrnehmung nicht etwas sein
kann, was uns passiert oder in uns passiert. Es ist etwas was wir tun.
Wahrnehmung ist nicht das Haben von bloß sensorischer Stimulation, sondern von
sensorischer Stimulation, die wir verstehen. Das Verständnis erlangen wir
durch aktives Einsetzen des ganzen Körpers.
Wir erspielen (enact) unser wahrnehmendes Bewusstsein.
Was für Kognitions-, Neurowissenschaftler und Geistesphilosophen bereits an
sich interessant ist, kann aber weitere Fragen aufwerfen. Wie subjektiv ist
unsere Wahrnehmung? Wie objektiv kann sie überhaupt sein? Wovon wird sie
beeinflusst? Wie weit kann ich sie beeinflussen? Inwieweit ist sie
veränderlich? Inwieweit ist sie nun vorgeprägt worden, als ich wahrzunehmen
lernte - und: welchen Gesamteinfluss hat es, wie ich wahrnehme?
Oder sogar: verstünde ich die Welt anders, hätte ich anders gelernt
wahrzunehmen - zu verstehen?
Ein Verständnis von etwas haben beinhaltet ganz basal zwischen wahr und falsch
zu unterscheiden. Ganz einfach. Zwei und zwei machen vier - das ist wahr,
klar. Die Tasse auf meinem Tisch ist eine Tasse. Wahr, klar. Oder? Gar nicht
mehr so sehr. Wo Sartre Philosophiestudenten mit scheinbar weltfremden Fragen
über "das Sein und das Nichts" quält, indem er sagt, dass die Tasse nur Tasse
ist, wenn wir sie als alles nicht-tassige nichten, kann ein Bogen zu
Whiteheads "Prozess und Realität" geschlagen werden, in dem in einem Nexus
zwischen uns und der Tasse das in Realität tritt, was wir die Funktion einer
Tasse und die Tätigkeit des Trinkens nennen würden und - ob wir wollen oder
nicht - unser beider weiteres Schicksal auf ewig gegenseitig beeinflusst haben
werden. Als reiche das nicht, ist von da an auch der Weltennexus nie mehr das,
was er mal war und wird das ganze Ereignis auch nie mehr vergessen.
Von hier geht es zurück zu Noë. Denken wir zu simpel? Nicht grundsätzlich, der
Alltag funktioniert ja (meistens). Meine Tasse funktioniert wie eine Tasse,
zum Glück. Aber wenn ich sie nicht gerade bloß zum Trinken benutzen will,
sollte ich es dabei belassen? Oder einen Blick über den Tellerrand wagen, den
solch theoretische Ideen wie die von Sartre und Whitehead aufwerfen? Sicher
nicht bei jedem Frühstückskaffee, denn das wäre mühevoll und es funktioniert
auch ohne. Aber wenn ich an den Kern von etwas will? Aussagen treffen, die die
Wahrheit von etwas treffen? Wenn es um Dinge geht, die wichtiger und von
grundlegenderer Art sind, als meine Morgenroutine? Oder wenn der Alltag doch
nicht mehr funktioniert und dann endlich aus ihm auszubrechen nötig ist, um
ihn zu beheben. Vielleicht sollten wir zumindest da prüfen, ob die Art, die
Welt zu beschreiben, zu verstehen und in ihr praktisch zu handeln im Kern das
trifft, was ihre Wahrheit ist, und wir nicht bloß bei den Arten zu Denken
hängen geblieben sind, die beim Morgentisch so leicht verdaulich waren, denen
wir vielleicht genau deshalb so routiniert nachgehen, weil sie unsere
direkteste Verbindung zur Außenwelt effizient ermöglichen, nämlich unsere
Wahrnehmung, und die aber deshalb auch so transparent und selbstverständlich
wirken, dass sie abzulegen ganz bewusste neue Rituale braucht.
Action in Perception
Noës Buch handelt von Wahrnehmung und Bewusstsein und richtet sich an Philosphen und Kognitionswissenschaftler, aber auch an Künstler und "anyone else who is interested in the way we manage to make - or fail to make - sensory contact with the world around us." Was bringt es also neues?
bisherige Wahrnehmungstheorie
Bisher sind zwei Vorstellungen am geläufigsten, um Wahrnehmung zu erklären:
Das Input-Output-Modell und die Sinnesdaten-Theorie, später ergänzt von der
Idee der Qualia.
Beim Input-Output-Modell ist Wahrnehmung der Input von der Welt zum "mind",
Aktionen sind der Output vom "mind" in die Welt und dazwischen vermittelt das
Denken. Das impliziert, dass dies jeweils voneinander trennbare Geschehnisse
sind. Wie bei einer Kamera soll das gemachte Photo unabhängig davon sein, wie
die Kamera nun genau zu dem Ort der Aufnahme gekommen ist, solange sie eben
dort angekommen ist.
Wieso wir davon ausgehen sollten, dass ein Input-Output-Modell bei uns nicht
zutrifft und wie das Wahrgenommene von den eigenen Aktionen abhängt, später
mehr.
(Noë ab S. 80)
Die Sinnesdaten-Theorie beschreibt atomistische Bausteine der Wahrnehmung, die
also nicht weiter zerlegbar oder hinterfragbar sind, da sie anscheinend
schlicht und einfach da sind. Ein Beispiel wäre genau "dieses Rot" einer
Tomate vor mir, das ich ganz offensichtlich wahrnehme. Diese Bausteine seien
mental. Damit wären die Gegenstände unserer Wahrnehmung nicht direkt die
Objekte, die wir in der Wahrnehmung betrachten, sondern die Sinnesdaten, die
wir von den Objekten erhalten. Denn wer kann schon mit Gewissheit sagen, ob
die Tomate, die ich vor mit wahrnehme, tatsächlich eine Tomate ist und
tatsächlich da ist, oder ob ich sie halluziniere? Denkbar wäre so ein Fall, in
dem ich etwas halluziniere, also tatsächlich wahrnehme, und keinen Unterschied
ausmachen kann zur Wahrnehmung einer echten Tomate. Also muss es nicht bloß
etwas geben, was manchmal unsere Wahrnehmung täuschend echt füllt, sondern
dieses etwas füllt immer unsere Wahrnehmung und stammt meistens von echten
Objekten und manchmal von Halluzinationen, sonst könnten wir den Unterschied
sofort ausmachen. Dieses etwas sind die Sinnesdaten, die - in diesem Fall -
eine Tomate ausmachen: ihre Rotheit, ihre Rundheit und so fort. Diese Position
wird auch Phänomenalismus genannt und impliziert, dass Wahrnehmung passiv mit
Inhalten gefüllt wird, die aus den Sinnesdaten bestehen.
Schon vor Noë gab es Probleme mit dieser Vorstellung. Das eine ist, dass es
zwar durchaus sein kann, dass ein Subjekt selber nicht aus der eigenen
Position des Erfahrenden unterscheiden kann, ob eine Erfahrung wahrheitsgemäß
ist oder nicht, das aber noch nicht ausschließt, dass es einen Unterschied
zwischen wahrheits- und unwahrheitsgemäßen Erfahrungen gibt. Eine Person
könnte beispielsweise keinen Unterschied zwischen einem Song der Rolling
Stones und Uncle Tupelo erkennen, was nicht heißt, dass es keinen Unterschied
gibt. Wir müssen dann die Möglichkeit beibehalten, dass es einen Unterschied
zwischen wahrheits- und unwahrheitsgemäßen Erfahrungen gibt, nämlich genau
den, dass in einem Fall die Erfahrung von einer tatsächlichen Tomate ausgeht
und in dem anderen nicht. Im Phänomenalismus geht alle Erfahrung allein von
Sinnesdaten oder allgemein von inneren mentalen Zuständen aus.
Ein anderes Problem ist, dass die Theorie verfehlt zu beschreiben, wie unsere
Erfahrungen uns die Welt tatsächlich darbieten. Wenn wir eine Tomate
betrachten, sehen wir nicht unmittelbar ein rotes und ein rundes Sinnesdatum,
sondern unmittelbar ein ganzheitliches Objekt.
Eine andere Idee im Kern der Sinnesdaten-Theorie ist, dass Wahrnehmung
bedeutet herauszufinden, wie Dinge sind, anhand dessen, wie sie aussehen, sich
anhören und so fort: "the encounter with how things appear and the encounter
with how things are", ein zweistufiger Prozess. Stellen wir uns nun aber eine
Allee vor. Wir sehen zwei lange Reihen von Bäumen, alle gleich groß. Und doch:
natürlich erscheint ein Baum weiter hinten kleiner in unserem Blickfeld als
der Baum, der mir am nächsten ist. Wir nehmen den hinteren Baum visuell
eindeutig kleiner wahr als den vorderen, würden ihm das aber nicht als eigene
Eigenschaft zurechnen. In unserer Erfahrung bleiben alle Bäume gleich groß,
auch wenn uns der Unterschied der Größe im Blickfeld auffällt. Wir könnten
dann feststellen, dass unsere Erfahrung zwei verschiedene grundlegende Arten
von Eigenschaften hat: die eine repräsentiert die Welt als das, was sie ist.
Die Bäume sind gleich groß. Die andere ist nicht repräsentativ, sondern ist
eine Eigenschaft der Erfahrung, wie es ist, diese Erfahrung zu haben, und die
nicht gleichzeitig von der Erfahrung den Dingen in der Welt zugeschrieben
wird. Letztere Eigenschaften der Erfahrung werden oft Qualia genannt und
können auch auf Formen, Farben und so fort zutreffen. Es müsste also neben den
objektiven Sinnesdaten mindestens noch Qualia geben, die das ausmachen, was
nicht den Objekten zugeschrieben wird "wie sie sind", sondern ausmachen, wie
es ist, diese Erfahrung zu haben: "der Baum hat diese Größe, aber ich sehe ihn
in jener Größe". Qualia wären mentale Zustände und subjektiv. Eine
wahrheitsgemäße Erfahrung könne einen Baum nicht gleichzeitig gleich groß und
doch kleiner als die anderen Bäume darstellen. Diese Eigenschaften müssen also
voneinander getrennt werden.
Was aber, wenn in unserer Erfahrung die Bäume gleich groß sind, nicht obwohl,
sondern genau weil die Bäume einen unterschiedlichen Teil unseres Blickfeldes
einnehmen? Die Bäume werden als gleich groß repräsentiert, genau dann wenn sie
entsprechend den Regeln der Zentralprojektion entsprechende unterschiedliche
perspektivische Größen haben. Und: wenn wir ein Verständnis dafür mitbringen.
Das muss kein Verständnis sein, das daher rührt, dass wir uns schon einmal
theoretisch - und auch nicht bewusst praktisch - mit darstellender Geometrie
beschäftigt haben. Aber dazu später mehr.
Enactivism
(Noë ab S. 82)
Die Eigenschaft, wie groß der Baum ist und wie groß er
in Abhängigkeit von dieser Position und seiner Größe
aussieht, können wir sehr wohl
unterscheiden, aber als echte objektive Eigenschaften des Baumes und der
Szene. Tatsächlich sind die Eigenschaften der vorliegenden Szene objektiv und
tatsächlich Eigenschaften der Szene und nicht subjektive mentale Zustände.
Dass die Bäume weiter hinten kleiner erscheinen, entspricht mathematisch genau
den Regeln der Zentralprojektion. Der Baum hat eine eigentliche Größe und eine
perspektivische Größe in der Szene. Genauso haben Objekte einen eigentlichen
Umriss und einen perspektivischen Umriss. Allgemein gibt es eigentliche
Eigenschaften von Objekten und perspektivische Eigenschaften
(P-Eigenschaften). Diese Eigenschaften sind auch genau so Dinge, die wir
direkt sehen. Schaue ich nicht genau von oben auf einen runden Tisch, sehe ich
ihn elliptisch. Ich sehe den P-Umriss des Tisches. Ich sehe diese
P-Eigenschaft und sehe aber gleichzeitig, dass der Tisch rund ist. Die
P-Eigenschaften sind reale, objektive Eigenschaften und nicht abhängig von
unseren mentalen Zuständen. Sie sind jedoch relational. Sie sind abhängig von
der Relation zwischen dem wahrgenommenen Objekt und dem Körper des
Betrachters. Die P-Eigenschaft, die ich sehe, ändert sich mit der Position
meines Körpers zum Objekt. Je näher ich dem Baum bin, desto größer seine
P-Größe. Je kleiner mein Winkel zu der Tischplatte, desto elliptischer ihr
P-Umriss.
Die P-Eigenschaften sind real in dem Sinne, dass sie nicht davon abhängig
sind, was in uns vorgeht oder was wir tun. Sie sind Eigenschaften der
Umgebung. Dennoch sind sie nur verfügbar für Kreaturen mit der richtigen Art
von sensomotorischem Apparat. Sie sind verfügbar für uns, weil wir
sensomotorische Fähigkeiten mit uns bringen.
"The invariant structure of reality unfolds in the active exploration of
appearances." Ich kann mich um einen viereckigen Tisch herumbewegen und den
sich ändernden perspektivischen trapezoiden Umriss beobachten. Der
perspektivische Umriss ändert sich mit meiner räumlichen Relation zu dem
Tisch. In dem Muster, wie er sich verändert, gibt es aber keine Varianz. Das
eigentliche Verhältnis der vier Winkel und Seiten der Tischfläche bleibt
(natürlich) gleich und macht die eigentliche Form des Tisches aus. Auch der
jeweilige P-Umriss, der sich aus einer bestimmten Relation von Tisch und
Beobachter ergibt, bleibt jeweils gleich. Durch Erkundung, welcher P-Umriss
bei welcher Relation zwischen mir und dem Tisch zu sehen ist, eröffne ich mir
die eigentliche Form des Tisches. Die unveränderliche Struktur der
Wirklichkeit entfaltet sich bei der aktiven Erkundung von Erscheinungen.
Was bedeutet das genau? Wenn das, was wir sehen, perspektivische Eigenschaften
sind, die sich ständig entsprechend ihrer Relationen ändern, wie kommen wir
dann zu der Wahrnehmung, wie die Dinge
eigentlich
sind? Schließlich können
wir einen Tisch direkt als rechteckig wahrnehmen, ohne ihn von jedem Winkel
aus betrachtet zu haben und die Tomate eröffnet sich uns direkt als
dreidimensionale, rote Tomate, ohne dass wir sie berührt und bei jeder
Lichtvariation angesehen haben.
Noës Idee ist der Enaktivismus. Durch unsere eigene Aktion und anhand dessen,
wie sich dann unsere Erfahrung ändert, lernen wir über die Welt. Schritt für
Schritt.
Ich nehme die Tomate als ganzes wahr und nicht als eine rote, unbestimmte
Form, weil ich weiß, wie sich das, was ich von ihr sehe, ändert, wenn ich mich
auf bestimmte Art in Relation zu ihr bewege. Ich weiß und verstehe, dass mir
die Runde Tischplatte immer runder erscheint, bis ich von oben auf sie herab
gucke. Eine Wahrnehmung zu haben bedeutet, einen Sinneseindruck zu haben, den
ich verstehe. Ich besitze einen sensomotorischen Apparat und weiß, wie ich ihn
einsetze, um meine Sinneseindrücke zu verändern. Erst so fülle ich meine
perzeptuale Erfahrung mit Inhalten.
Wir können alle möglichen P-Eigenschaften, die ein Objekt in Relation mit dem
Akteur und der Umgebung erzeugen kann, dessen sensomotorisches Profil nennen.
Dann ist meine Wahrnehmung von dem Objekt reicher, desto mehr ich mit dessen
sensomotorischen Profil vertraut bin. Wahrnehmung ist dann eben nicht wie im
Input-Output-Modell der passive Input-Teil. Unser Körper ist zwar fähig,
visuell durch Licht aus der Umgebung stimuliert zu werden und einen
Sinneseindruck zu haben, aber dadurch nehmen wir noch nicht wahr. Erst der
geübte Einsatz unseres Körpers und das Verständnis über die Abhängigkeiten zu
den Sinneseindrücken, wie sie sich entsprechend Verhalten, machen Wahrnehmung
aus. Wahrnehmung ist ein aktiver Prozess, der neben der entsprechenden
sensomotorischen Ausstattung auch Übung und Verständnis erfordert.
Durch den probenden Einsatz unseres Apparates und der einhergehenden
Exposition mit verschiedenen P-Eigenschaften verschiedener Objekte sammeln wir
Erfahrung über verschiedenste sensomotorische Profile und werden wahre Meister
im Einsatz unseres Apparates und im Verständnis von den Relationen zwischen
unseren Aktionen und den sich ändernden Sinneseindrücken. Unsere Wahrnehmung
erreicht einen Punkt, an dem wir gedankenlos und automatisiert unsere Augen,
den Kopf und den ganzen Körper bewegen. Wir können problemlos unseren Hals in
Richtung eines Geräusches drehen, ein Glas Wasser heben und uns ducken oder
größer machen, um unsere Sicht auf etwas zu verbessern. Wir entwickeln einen
Sinn für Räumlichkeit, Farben, Lichtspiel. Wir können Dinge blind erfühlen und
sie dann später am Aussehen erkennen, denn wir haben reichlich Erfahrung
gesammelt, welches Gefühl und welches Aussehen typisch für welche Oberfläche
oder Form ist.
Wenn wir etwas in unserer Erfahrung nicht sofort komplett erfassen können,
sind wir durch unsere Übung und Fähigkeiten so schnell und effizient darin,
uns Zugang zu einem noch fehlenden Eindruck zu erfassen, dass wir es ganz
intuitiv tun.
Ob, was, und wie wir wahrnehmen, ist somit abhängig von unseren eigenen
sensomotorischen Fähigkeiten. Davon, wie wir sie eingesetzt und Übung darin
gewonnen haben, und noch weiter einsetzen. Außerdem von unserem Verständnis
über die Abhängigkeiten zwischen unserer Umgebung und unseren Aktionen.
Thought in Experience
(ab S. 181)
Um eine Ballerina beim Spagat zu sehen, also eine Erfahrung davon zu haben
"wie eine Ballerina einen Spagat macht", setzt voraus zu wissen, was eine
Ballerina, und was ein Spagat ist. Sonst kann der Inhalt meiner Erfahrung zur
gleichen Szene auch "Tänzerin, die seltsam hinfällt" sein. Ich muss also ein
Konzept von Ballerina und Spagat mitbringen, nämlich, dass Ballett von Musik
begleiteter klassischer künstlerischer Bühnentanz ist und Spagat eine
Spreizung der Beine, sodass sie eine Linie bilden. So oder in einem mehr oder
weniger detaillierten Grad. Ist aber jede Art von Wahrnehmungsinhalt auf diese
Art konzeptual? Das wäre wahrscheinlich eine übermäßige Intellektualisierung
von Wahrnehmungserfahrung.
Außerdem: Wir können keine Konzepte solcher Art von allem haben, was wir
wahrnehmen. Wir können ein Konzept von Farbwerten haben, aber nicht von jeder
Schattierung einer Farbe, die wir sehen. Dafür ist Erfahrung zu feinkörnig.
Wir erfahren die Welt aber trotzdem mit all solchen Eigenschaften. Also muss
es nonkonzeptuale Inhalte in unserer Wahrnehmung geben und einen Weg, dass
Erfahrung uns mit Eigenschaften der Welt beliefert, ohne Konzepte von ihnen zu
haben.
Um wahrzunehmen brauchen wir aber sensorische Stimulation, die wir
verstehen
. Wichtig dabei ist, dass wir die Stimulation
sensomotorisch
verstehen. Mir mag ein Konzept genau dieser Schattierung von Rot in Bezug auf
Farbentheorie fehlen, aber ich verstehe dieses Rot sensomotorisch, weil ich
sensomotorisch geübt bin. Diese sensomotorische Übung, so Noë, ist selber
konzeptual oder "proto-konzeptual". Ich kann zwar nicht in Worte fassen, wie
genau dieses Rot für mich aussieht und es anderen vermitteln, aber ich könnte
es unter anderen Schattierungen von Rot wiedererkennen.
Noë: Zusammenfassung
Wahrnehmung ist also nichts, was uns passiv passiert, etwa durch Stimulation von außen oder durch das Sammeln von sensorischen Daten durch Sinnesorgane. Wir setzen unseren gesamten sensomotorischen Apparat ein, um Wahrnehmung zu lernen, um uns mit ihm Eigenschaften der Welt zu erspielen, die wir wahrnehmen wollen. Wie genau unsere Wahrnehmunserfahrung dann aussieht, ist bestimmt von den Fähigkeiten, die wir uns angeeignet haben. Trotzdem ist das, was wir wahrnehmen, am Ende nicht bloß eine mentale Abbildung der Welt in unserem Kopf. Unser Zugang zu der Stimulation von außen, die als physikalisches Objekt logisch und objektiv ist, ist direkt. Diese direkte Stimulation sensomotorisch zu verstehen füllt unsere Erfahrung mit Wahrnehmungsinhalten.
Meine Überlegung
Sind nicht nur erfahrbare Wahrnehmung, sondern auch Bewusstsein, Identität und bewusstes Denken Nebenprodukte oder Entwicklungen aus Wahrnehmungskonzepten? Wenn letztere abhängig sind von unserer sensomotorischen Übungsgeschichte, müssen erstere als Produkt letzterer das auch sein.
Das erste, was wir scheinbar lernen ist, effizient mit Eindrücken aus der Welt
umzugehen. Das ist gut, denn es verleiht uns die Fähigkeiten, die wir für den
Alltag und zum Überleben in Stresssituation brauchen. Aber manchmal ist es
vielleicht schlecht, ohne dass wir es merken, merken können. Kannst Du ein
Gesicht betrachten, ohne ein Gesicht zu
/sehen/?
Eine unserer kognitiv
höchsten Leistungen sind unser Sozialverhalten. Ein wichtiger Bestandteil ist,
Emotionen bei einem Gegenüber zu lesen. Das heißt dann oft "emotionale
Intelligenz". Gesichter fallen uns sofort auf, wir verbinden Identitäten mit
ihnen - viel mehr als mit wohl allem anderen, was physisch ist.
Es ist daher kein Zufall, dass wir sogar Gesichter in vielen Dingen sehen,
die keine sind. Oft ganz unfreiwillig [1]. Können wir Buchstaben sehen ohne Worte?
Gezwitscher hören, ohne an Vögel und Morgengrauen zu denken? Irgendwann schieben
sich die bekannten Muster unkontrolliert in die Wahrnehmung. Flüssig lesen ist
gut. Und vieles andere auch, vorallem waren wir so effizient genug, um als
Spezies so weit zu kommen, wie wir heute sind. Aber dadurch sind wir auch längst
an einem Punkt, an dem wir diese Alltagseffizienz nicht mehr zum Überleben brauchen.
Wie oft verbirgt sie uns Zusammenhänge, die alltagsgerecht und effizient
daherkommen, aber nicht genau korrekt sind? Wie oft sagt sie uns, dass wir uns nun
tief genug mit einem Problem befasst haben oder schon "die Wahrheit" gefunden
haben, obwohl eigentlich klar ist, dass es nicht so sein kann. Na klar, was
können das schon für Dinge sein, dass wir uns ernsthaft um unser Wohl fürchten
müssen? Morgen ist auch noch ein Tag. Aber was uns als Gesellschaft vor
Probleme stellt, sind nicht etwa Nahrungsknappheit und körperliche Gefahr.
Wir müssen längst nicht mehr sparsam mit unserem biologischen Energieverbrauch
sein. Probleme machen wohl eher die weniger sichtbaren Dinge. Die, von denen ich
bemerkt habe, dass sie uns in einem Moment vielleicht aufregen, aber in einer Woche
schon wieder vergessen sind. Und irgendwie geht es mir immer noch okay, auch wenn
die Sache nicht aus der Welt geschafft wurde, wenn ich mich denn selbst noch daran
erinnere. Aber dann merke ich, dass ich es bequemer hatte, als ich mich nicht mit
Problemen wie diesem Problem von letzter Woche beschäftigt habe. Ich lass das
Problem Problem sein.
Das ist ein Ritual, das vielleicht nur andere Rituale lösen können.
Allgemeiner: Es stellt sich von unterschiedlicher Seite die Frage, wie viel wir falsch beurteilen, weil wir uns nicht genügend den Wirkungsweisen bewusst sind, denen wir selber unterliegen.
"To have a concept is to be able to make judgments. Judgments are made for reasons , and they aim at the truth . To understand truth, you must grasp (however implicitly) the laws of truth (i.e., logic), and you must grasp the distinction between how things really are and how they merely seem to be."
Das Prinzip der Konzeptualisierung zur Effizienssteigerung mag viel tiefer in
unsere verschiedensten Lebensaspekte eingreifen, als zunächst gedacht.
So ist etwa auch die Einteilung von Entitäten in Subjekte mit wechselnden
Prädikaten womöglich bloß eine Konzeptualisierung von z.B. Menschen in
wiedererkennbare Muster, die zwar eine Handhabung von Informationen in unserem
Alltag vereinfachen, aber weit davon weg sind, die Realität zu beschreiben.
So eine Einteilung mag seine Berechtigung im Alltag haben, aber für die
Analyse verschiedenster Phänomene sollte dann davon Abstand genommen werden.
Wahrscheinlich am deutlichsten wird die Einteilung von Entitäten in Subjekte
mit wechselnden Prädikaten in (westlichen) Sprachen (Syntax) und im
(westlichen) Identitätsverständnis (über die gesamte Lebenszeit [und womöglich
noch darüber hinaus] eine Person zu bleiben, die im Verlauf der Zeit
verschiedene Dinge tun kann und sich wandeln kann, aber doch eine
"Ich"-Identität behält).
Whitehead (Prozess und Realität, 1987) und scheinbar auch Thompson kommen in
ihren Analysen jedoch zu der Idee, dass die Welt ausschließlich aus Prozessen
besteht, bei denen (vorstellbar wie eine Funktion in linearer Algebra, die
abhängig vom betrachteten Punkt auf einer Achse verschiedene Werte aufweist)
das was sie sind und "was sie tun" nicht voneinander unterscheidbar ist.
So wären (soll überhaupt daran festgehalten werden, einzelne Menschen als
abgegrenzte Entität zu verstehen) Menschen eben auch "bloß" das, was die
Gesamtheit ihres Tuns ausmacht - woraus sie gerade materiell bestehen, ihre
Körperfunktionen und jede Handlung eben mit eingenommen.
Eine solche Betrachtungsweise beendet die ungelöste Problematik, eine
gleichbleibende Identität von sich ständig ändernden Handlungen, sich
ändernden Ansichten und sich änderndem introspektiven Selbstverständnis
abzugrenzen und eröffnet eine rationalere Beschreibung von allen möglichen,
Dingen in der Welt. (Siehe auch Sartres Begriffe von Wahrheit -
in metaphysischer Beschreibung - und vom Menschen - in der existentialistischen
- in "Das Sein und das Nichts".)