Ein dezentrales Labor der Intraaktion

Nach einer neuen technikphilosophischen Praxis strebend und auf dem Fundament der kollektiven Kraft basierend, hat eine Gruppe Berliner Künstler, Wissenschaftler und Aktivisten ein längerfristiges, disziplinumspannendes Labor gegründet und forscht und arbeitet an einem utopischen Performativ, das Möglichkeiten und Motivationen des digitalen Zeitalters kollaborativ hinterfragt.

Die wachsende Kluft zwischen der technologisch bestimmten Alltagsrealität und dem allgemein verbreiteten, immer noch stark analog geprägtem Kulturbewusstsein ist aktuell kaum von der Hand zu weisen und behindert zunehmend eine produktive Korrespondenz interdisziplinärer Ausdrucksfelder. Die Systeme reiben sich aneinander, sperren sich gegenseitig aus ihren jeweiligen Produktionsmechanismen aus und suchen selten nach durchlässigen und offenen Begegnungsfeldern. Transmedialität äußert sich in künstlerischen Kontexten häufig nur in der „Verwendung“ eines dominanten Mediums, dem das andere dann dienend zur Verfügung gestellt wird. Video oder Twitter werden so z.B. im Theater oft zugunsten eines suggestiven Effekts eingesetzt. Diese Form des Umgangs übersetzt Kommunikationsformen in eindimensionale Evaluierungs- und Werbeprogramme einer neoliberalen Marktwirtschaft und verleugnet die gesellschaftskonstituierende Kraft von Hard- und Software größtenteils. Es mangelt an einer gemeinsamen Sprache und Orten der fundierten, allumfassenden Erörterung der Schnittstellen und Verankerungspunkte.

Es ist daher an der Zeit, den technischen Entwicklungen der Medien und digitalen Kommunikationsformen über ihren bloßen Werkzeugcharakter hinaus eine eigene Entwicklungsdynamik zuzugestehen, die sich nicht in den jeweiligen gesellschaftlichen Bedürfnissen erschöpft, sondern als wesentliche Konstituente von gesellschaftlichen Entwicklungen benannt wird. Dieser Erkenntnis folgend, sollte die Verhandlung von Technologie auf einem neuen Level geführt werden – in Beziehung und auf Augenhöhe von wissenschaftlichen Disziplinen wie Soziologie oder Psychologie und im produktiven Kontext einer gesellschaftsrelevanten Kunstauseinandersetzung. Zwar existieren bereits einige Auseinandersetzungen anerkannter Wissenschaftler/Philosophen wie z. B. Bernhard Stiegler oder Hartmut Rosa, allerdings werden diese meist nur in Foren verhandelt, in denen bereits ein Konsens darüber herrscht, dass Maschinen mit einer eigenen „genetischen Logik“ oder „Mechanologie“ ausgestattet sind. Selten finden diese Diskurse Einzug in den Kontext einer ästhetischen und/oder soziologischen Praxis. Hier mangelt es vor allem an einem praktischen Feld und der dialogischen Suche nach einem Umgang mit dieser Erkenntnis.

Der Logik dieser Tatsache folgend, sollte vor allem die Kunst als Ort der sozialen Reflexion und Bildung von Mündigkeitsoptionen diese Kluft überwinden und nach Formen des (eigen-)verantwortlichen Umgangs mit Medien und der selbstbestimmten Produktion von eben diesen nachdenken. Wo, wenn nicht im kulturellen Kontext, sollte die Sorge um kognitive Fähigkeiten, Individuationsprozesse [1] und Entkopplungsphänomene zwischen den Disziplinen besprochen werden? Wer beobachtet Ausbeutungs-, Entfremdungsmechanismen im sozialen Gefüge? Und welche gesellschaftsrelevante Stimme sieht sich in der Lage das Beobachtete in Handlung zu überführen? Wie sehen ästhetische Übersetzungen und Transformationen auf Hard- und Softwareebene aus? Es gilt an einer künstlerischen Praxis zu arbeiten, welche die Genealogie der Verhältnisse im Blick hat, selbst mit formiert und das herrschende Aufmerksamkeitsdefizit überwindet.

Die utopische Kraft von Kunst und Kreativität sowie Arbeitsweisen der Open-Source-Kultur könnten dabei genau die Durchlässigkeit anregen, die für einen intradisziplinären [2] Austausch notwendig ist.


(1) Exkurs I: Die Hypertextualität der neuen Medien erzeugt eine andere Art der Aufmerksamkeit und zerstört und verändert kognitive Fähigkeiten, die zum Überleben im gegenwärtigen Alltag weniger wichtig geworden sind. So nutzen aktuelle Vermittlungs- und Kommunikationsversuche der Kultur immer weniger den Modus der "deep attention" mit der Folge zunehmender Rückbildung neuraler Wahrnehmungsmöglichkeiten: Die Fähigkeit der Fokussierung des gesamten kognitiven Apparats der Konzentration auf eine komplexe Fragestellung zur Bildung eines kritischen Bewusstseins. Vgl.: Nicholas Carr, Wer bin ich wenn ich online bin (Karl Blessing Verlag, 2010).

(2) Exkurs II: Im Gegensatz zur Interaktion geht die Intraaktion nicht von der vorgängigen Existenz unabhängiger Entitäten und Relata aus. Erst durch spezifische Intraaktionen erlangen Grenzen und Eigenschaften von Phänomenen Bestimmtheit und bestimmte Begriffe Bedeutung. Diese Begriffsunterscheidung nach Karen Barad stellt einen begrifflichen Wandel dar, auf dem der hier formulierte Wunsch nach Begegnung abzielt. Ziel ist es eine produktive Überwindung des Dualismus von Natur/Kultur oder auch Menschlichem/Nicht-Menschlichem in den Fokus der Auseinandersetzung zu stellen.